Hitlers Hausmusik

Hitlers Hausmusik

 

Hitlers Hausmusik

 

von Irmgard Jungmann

 

I. Einführung

II. Erfindung einer nationalen "Hausmusik-Vergangenheit"

III. Hausmusik ist Kunst - das "Volkslied" als nationale Kunst

IV. Hausmusik als völkisches Gemeinschafts- und nationales Qualitätsmerkmal

V. Schluss 

 

I. Einführung

 

In der öffentlichen Wahrnehmung führen die zwei Begriffe "Musik" und "Drittes Reich" häufig zu Assoziationen von Bayreuther Wagner-Festspielen oder von glamourösen Konzerten speziell der großen philharmonischen Orchester mit Bruckner und Beethoven-Aufführungen, andererseits auch zu Bildern von unzähligen Aufmärschen der kleinen "Pimpfe", der Hitlerjugend mit Trommeln, Pauken und Blasinstrumenten oder der "musikalischen" Paraden von Partei und SA. In der wissenschaftlichen Diskussion bearbeitet und weitgehend im öffentlichen Bewusstsein verankert ist ebenso die nationalsozialistische Diffamierung und Verfolgung alles dessen, was von Regierungsseite seinerzeit als "entartete Kunst" bezeichnet wurde. Weniger bekannt ist jedoch, welche Entwicklungen es darüber hinaus in dem Bereich der Musikpflege gab, der von jeher halb privat – halb öffentlich den bürgerlichen Teil der Gesellschaft betraf, der sich der Ausübung von "Hausmusik" widmete.

 

Seit 1932 – also bereits einige Monate vor Hitlers Machtergreifung – hatte man erstmals im Monat November den "Tag der Hausmusik" proklamiert, einen Tag, der auch unter den Nationalsozialisten weitergeführt, unter der Ägide der Reichsmusikkammer mit großen Anstrengungen organisiert wurde und von den unterschiedlichsten Partei-Organisationen an der Basis Konzert- und Propagandaveranstaltungen forderte, um das Ideal "Hausmusik" in die Breite des Volkes zu tragen. Die "Arbeitsgemeinschaft für Hausmusik", die in der Reichsmusikkammer integriert war, erließ ausführliche Anweisungen, wie der Tag der Hausmusik durchzuführen sei.

 

Es lag in der Natur der Sache, dass die Hauptlast der Organisation dieses Tages auf den Musikerzieherinnen und -erziehern liegen würde: den PrivatmusiklehrerInnen, den SchulmusiklehrerInnen, aber auch den musikalischen LeiterInnen von Sing- und Spielgruppen der Hitlerjugend, der NS-Gemeinschaft "Kraft durch Freude" oder der Singscharen der NS- Frauenschaft. Innerhalb jeden Ortes, jeder Gemeinde war ein Fachschaftsleiter für Musikerziehung damit beauftragt worden, die verschiedenen musikerzieherischen Aktivitäten zu koordinieren und speziell für diesen Tag Initiativen der MusikerzieherInnen anzuregen, zu unterstützen und zusammenzuführen. Da gab es vielfältige Ideen, wie man die Bevölkerung für das Instrumentalspiel oder den Gesang "im Hause" begeistern könne. Hierzu nur einige Beispiele[1]: in Königsberg stellten 15 Familien ihre Wohnräume als Gastgeber zur Verfügung, in denen dann Künstler und Laien gemeinsam ein Musikprogramm vor geladenen Gästen darboten. Hausmusik im Haus! Ganz ähnlich führten auch "Hausmusik-Stoßtrupps" in Plön zwei Wochen lang ihre Kammermusikabende in Plöner Häusern durch. In Weimar hatte man die Öffentlichkeit zum kostenlosen Probeunterricht geladen, wo Interessierte sich unter anderem an der Blockflöte, der Handharmonika, dem Klavier oder der Laute ausprobieren konnten. Ein Vortrag in Glogau stand unter dem Thema "Ein Nachmittag beim kleinen Mozart". Man erzählte nicht nur zwischen den Vortragsstücken kleine Mozart-Anekdoten, sondern ließ auch Vater Mozart, Wolfgang und Nannerl in historischen Kostümen verkleidet auftreten und musizieren. Immer wieder wurde von der Organisationsleitung darauf hingewiesen, das Programm einfalls- und abwechslungsreich zu gestalten, weniger das Virtuosentum einiger besonders Begabter vorzuführen, als vielmehr darauf zu achten, ein die Allgemeinheit ansprechendes und allgemein verständliches Musikprogramm auf die Beine zu stellen.

 

Was verstand man nach offizieller Lesart damals unter dem Begriff "Hausmusik", und welche musikästhetischen und sozialgeschichtlichen Vorstellungen lieferten den NS-Autoritäten die Begründung und Motivation, das Musizieren im privaten Raum zu propagieren?

 

Das 19. Jahrhundert gilt heute allgemein als die Blütezeit der Hausmusik. Als Musikpflege im mehr oder minder privaten Kreise der Familie hatte sie sich im adelig-bürgerlichen Milieu entwickelt, wo "der stille, reine Genuß kleiner Zirkel"[2] und die "Tonkunst für einsame Stunden und für den traulichen Familienkreis"[3] gepflegt werden konnten. Ihre zunehmende Verbreitung war soziologisch eng an die Zeit der gesellschaftlichen Bedeutungszunahme von Beamtentum und Bildungsbürgertum sowie an das Wachstum von Wirtschaft und Handel gebunden. In der damit sich vergrößernden städtischen Bürgerschicht idealisierte man die Musik als "den erquickenden Athem des Lebens"(J.g.Herder) und vermeinte, hausmusikalisches Tun als Accessoire des bürgerlichen Standes zu benötigen. Bilder und Schriften geben uns Zeugnis, auf welch unterschiedlichem Niveau sich die Musikausübung im Hause abspielen konnte. Da waren einerseits die "Salons", die teilweise Konzertcharakter hatten, wenn Chopin, Schumann oder Brahms ihre Kompositionen einem ausgewählten Zirkel vortrugen, da gehörten Treffen von Musikfreunden dazu, die sich - wie im Hause des Musikliebhabers Anton Friedrich Justus Thibaut - neuere Opern- oder Oratorienwerke im Chorsingen mit Klavierbegleitung erarbeiteten, da gab es Hausgesellschaften, zu denen ein Streichquartett vorgetragen wurde, ebenso aber Einlagen, in denen die Hausdame oder das Haustöchterchen ihre bisweilen mageren Gesangskünste zum Besten gaben sowie ein Familienmitglied eines der zahlreichen Mode-Klavierstückchen vortrug.

 

Hausmusik umfasste im 19. Jahrhundert ein breites Spektrum von Musik, zumal die zwei- oder vierhändigen Klavierbearbeitungen auch die großen orchestral-konzertanten Werke ins Haus holten. Nicht nur auf der Ebene der Konzertmusik, sondern gerade auch im Bereich der Hausmusik begann die Auseinandersetzung zwischen der hoch zu schätzenden Kunst einerseits und der niederen Qualität andererseits. Man denke an die Rezensionen Schumanns, der in seiner Neuen Zeitschrift für Musik die Besprechungen in qualitätsmäßig aufsteigender Reihenfolge den Lesern offerierte und damit deutlich zwischen guten und schlechten Kompositionen unterschied, oder an seinen Redaktionsnachfolger Franz Brendel, der sich angesichts der Masse von kunstlos eingeschätzter Musikware dazu entschloss, ein extra Beiblatt unter der Rubrik "Modeartikel, Fabrikarbeit" der Zeitschrift beizufügen. Trotzdem bleibt festzuhalten: selbst die die Massenware produzierenden Komponisten orientierten sich im 19. Jahrhundert sowohl in der Instrumentenwahl als auch in ihren - wenn auch einfachsten - kompositorischen Techniken an der sogenannten Kunst. Man spielte Klavier, Geige, Violoncello oder Querflöte, nicht Zither, Ziehharmonika oder solche Instrumente, die eher im bäuerlichen Milieu üblich waren. Auch wenn man zunächst wegen technischer Schwierigkeiten mit dem Einfachen vorlieb nehmen musste, so galt durchaus das Ideal der großen Kunst, denn diese ins Haus zu holen, gehörte zum Standesbewusstsein einer Schicht, die dem Bildungsbürgertum zugehörig sein wollte. Gerade das soziale Merkmal aber, die Schichtenspezifität der Hausmusik, wurde mit Beginn des 20. Jahrhunderts zu einem immer häufiger formulierten Stein des Anstoßes. Die Jugend- und die Schulmusikbewegung, deren führende Akteure sich in hohem Maße aus Vertretern der unteren Mittelschicht rekrutierten, sollte das Elitäre, das Komplizierte, rundum das spezifisch bildungsbürgerliche Musikleben attackieren. Nicht nur für wenige Auserwählte, sondern für alle sei Kunst da.

 

In der Weimarer Republik brachte der Musikreferent im preußischen Kultusministerium Leo Kestenberg mit der groß angelegten Schulmusikplanung eine Reform in Gang, bei der jedes Kind durch den musikalischen Unterricht von der 1. Klasse an einen Zugang zur Kunst und möglichst zu eigener musikalischer Betätigung finden sollte. In diesem Rahmen entwickelte sich in den zwanziger Jahren eine neue Forderung an die Hausmusik. Nicht nur die Schule allein könne musikalisches Tun fördern, ebenso wichtig sei die musikalische Betätigung innerhalb des Hauses, innerhalb der Familie, sie sei, wie ja die Erfahrungen der bildungsbürgerlichen Schicht zeigten, wo mit der familiären musikalischen Förderung ein wichtiger Grundstein für die spätere Musikliebe und -begeisterung gelegt werde, eine bedeutende Voraussetzung für den Zugang zur musikalischen Kultur. Die Demokratisierung der Hausmusik zur "Hausmusik für jedermann" wurde besonders von Vertretern der Jugend- und Singbewegung angestrebt mit dem Ergebnis, dass 1932 von staatlicher Seite der 22. November (kirchlicher Namenstag der Musikpatronin Cäcilia) zum "Tag der Hausmusik" deklariert wurde.

 

Die nationalsozialistische Musikpolitik konnte auf diesen Errungenschaften der Sing-, Jugend- und Schulmusikbewegung aufbauen, zumal deren Ansätze bestens in das Konzept einer das ganze Volk umfassenden Musikpflege hineinpassten. Die "höhere Weihe", die der Hausmusik von NS-Seite verliehen wurde, führte aber ebenso Entwicklungen der Ideengeschichte fort, die sich bereits im 19. Jahrhundert in immer schärferer Deutlichkeit herauskristallisiert hatten. In der Verquickung von historisierenden, von musikästhetischen, besonders aber national-nationalistischen Kategorien waren Bewertungen gegenüber der Hausmusik entstanden, die unmittelbar bis ins "Dritte Reich" hineinwirkten.

 

 

 

 

 

II. Erfindung einer nationalen "Hausmusik-Vergangenheit"

 

 

 

Wenn in deutschen Landen im 16. und 17. Jahrhundert bisweilen der Terminus "Hausmusik" auftauchte, so fand er sich in einer ganz anderen als der heute üblichen Bedeutung, stand er doch im Zusammenhang mit reformatorischen Bestrebungen, die Familie "im Hause" zu einer gottesgläubigen Gemeinde zu versammeln und gemeinsam christliche Andachten abzuhalten. Geistliche Gesänge, Lieder und Motetten sollten dazu beitragen, die Frömmigkeit ins tägliche Leben hineinzutragen. Titel wie ""Christliche Hauß- und Tisch-Musica" (1605) oder ""Kirchen und Hauß Musica Geistlicher Lieder" (1618)[4] geben Zeugnis davon, dass lutherische Anregungen, wie das Lob Gottes auch musikalisch in jedes Haus zu tragen sei, in vielfältiger Weise aufgenommen wurden. Gegen Ende des 17. Jahrhunderts verliert sich hingegen der Begriff und noch im 18. Jahrhundert ist er so gut wie gar nicht gebräuchlich - selbst Haydn, Mozart und Beethoven sprechen angesichts ihrer Streichquartette u.ä. nicht von Hausmusik, obwohl "häusliches Musizieren" damals bereits in vielfältiger Form im Gange war, wie besonders bei Walter Salmen (vgl. Anmerkung 4) ausführlich nachzulesen ist.

 

Anhand einiger ausgewählter Autoren des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts soll nun exemplarisch verfolgt werden, wie sich das Verständnis von Hausmusik änderte und wie sich die Konstruktion einer deutschen Hausmusik-Geschichte entwickelte.

 

1837 versuchte der Musiker und Musikschriftsteller Carl Ferdinand Becker,[5] der sich intensiv mit musikhistorischen Quellen befasste, eine, wenn auch noch sehr rudimentäre "Geschichte der Hausmusik". Er räumte bereits ein, dass der Begriff "Hausmusik" nicht leicht zu definieren sei, grenzte sie aber gegen solche Musik wie "Symphonieen, Concert-Ouverturen, Instrumental-Concerte, Oratorien, wie Haydns Jahreszeiten u.dgl." ab und wollte darunter verstanden wissen "alle die kleineren Tonstücke für Gesang und Instrumente ...., die nie oder doch nur ausnahmsweise eine Stelle im Concertsaal finden, hingegen stets im Hause ausgeführt werden." Dann beschrieb er verschiedene Werke der Sonaten- und Suitenliteratur sowie Lautentabulaturen. Mit der Unterteilung der Musikgeschichte in einen öffentlichen und einen privaten Aufführungsrahmen nahm er eine Differenzierung vor, in der abstrakt zwischen zwei zuvor so nicht genannten Musiksphären unterschieden wurde, ein Zeichen dafür, dass das Phänomen des häuslichen im Gegensatz zum konzertanten Musizieren als musikhistorische Erscheinung nun stärker ins öffentliche Bewusstsein gedrungen war. Da sich Becker in seiner Betrachtung notwendigerweise auf schriftlich fixiertes Material stützte, also auf Noten, auf Mensuralnotation und Tabulatur mit in der Regel mehrstimmigem Gesang, die nur von einem dazu ausgebildeten Personenkreis gelesen und ausgeführt werden konnten, implizierte dies, dass der Autor von einer "Hausmusik" handelte, die nur im Hause relativ gebildeter und damit wohlhabender Leute möglich gewesen sein konnte. Gleichwohl war für ihn die gesellschaftliche Schichtenzugehörigkeit (noch!) kein Thema, sondern er verlegte sein Hauptaugenmerk eben darauf, dass und wie Musik "in früheren Jahrhunderten" im privaten Kreis des Hauses praktiziert worden war. Seine Bewunderung galt der vorgefundenen Fülle von solcherart "Hausmusik".

 

Im Verlauf des 19. Jahrhunderts geriet der Hausmusik-Diskurs jedoch zusehends in das Fahrwasser kulturpessimistischer Strömungen. Man meinte, den Untergang des Familienverbandes und mit ihm den der Hausmusik beklagen zu müssen. Beispielhaft wird hierzu immer wieder der Kulturhistoriker Wilhelm Heinrich Riehl (1823-1897) zitiert, der sich in seinem "Studium des deutschen Volkes und seiner Gesittung"[6] auch dem Familienleben zugewandt hatte. Riehl sprach vom "Heiligtum des Hauses". Die Familie war ihm Keimzelle von Sitte und Zucht, hier würde gelernt, was nicht nur im Zusammenleben der Familie von Bedeutung sei, sondern all das, was eine gesunde Gesellschaftsordnung benötige (inklusive – wie Rudolf Stephan[7] kritisch anmerkt – der ständischen Ordnung, der Vorurteile, der Religion, des Gehorsams gegenüber Obrigkeiten). Riehls Familienideal war schon seinerzeit bereits rückgewandt, da er den Realitäten der städtischen Arbeiterfamilie und deren schweren Arbeitsbedingungen nur "wachsende Familienlosigkeit" attestierte, dies als Gefahr für die Existenz des ganzen Volkskörpers ansah und dagegen ein heiles, wohlhabendes Familienidyll setzte. Eine Heilung des kranken Volkes sei nur möglich, "wenn die ganze Nation wieder tiefer durchdrungen sein wird von dem Geiste der Familienhaftigkeit". Daran geknüpft sei auch ein Wiedererlangen der häuslichen Geselligkeit, die die Vorstellung der "gesunden" Hausmusik mit einschloss. Denn was sei besser geeignet, die Familie als den Hort von Zusammenhalt, Sitte und Kultur zu festigen als die Hausmusik?

 

Als "Tiefstand" der Hausmusik bezeichnete 50 Jahre später auch der Musikwissenschaftler Hugo Leichtentritt das private Musizieren seiner Zeit. "Deutsche Hausmusik aus vier Jahrhunderten"[8] betitelte er 1905 seine von ihm mit Klavierbegleitung versehene Lieder- und Ariensammlung. Wie es in seinem Vorwort heißt, wollte er "die Hauptstationen" der Hausmusik-Geschichte an musikalischen Beispielen präsentieren. "Hier kam es darauf an, im wesentlichen zu zeigen, wie denn eigentlich diese 'kleine' Kunst geworden ist und sich gewandelt hat, was die Hausmusik ehemals bedeutete, wie es geschah, daß sie auf dem Tiefstand angekommen ist, den die einsichtigen Beobachter gegenwärtig beklagen." Leichtentritt bemängelte, dass bereits mit Mozart und Beethoven die Kammermusik so schwer ausführbar geworden sei, dass die Dilettanten nur in beschränktem Maße Zugang zu ihr gefunden hätten. "So beuteten geringwertige Musiker die Situation aus, und es entstand für das Haus jene entsetzliche 'Salonmusik', ein ganz modernes Produkt, desgleichen es in keinem der früheren Jahrhunderte gegeben hat. Sie hat mit Kunst so wenig gemein, wie etwa ein Hochzeitscarmen mit Poesie." Als Gegengewicht gegen die "kunstfeindliche Prostitution" schlug Leichtentritt die Rückbesinnung auf die Renaissancemusik vor, so wie er sie in seinem Heft ausgewählt hatte: Werke von Orlando di Lasso, Hassler, Schein, Keiser und Telemann (Arie aus Oper und Kantate).

 

In ganz ähnlicher Weise argumentierte 1911 der seinerzeit bekannte Kultur- und Musikschriftsteller Karl Storck: "..... wenn wir aus der Fülle der erhaltenen Madrigale und mehrstimmigen Volksliedbearbeitungen einen Schluß machen dürfen, war selbst das Bürgertum des 16. Jahrhunderts musikalischer, als das heutige. Denn jene mehrstimmige Gesangsmusik, die damals den einzigen Zweig der Hausmusik darstellte, entspricht auf gesanglichem Gebiete den feinsten Werken unserer Kammermusik." Gleichzeitig beklagte Storck leidenschaftlich die aktuelle Situation, "daß mit der Verbreiterung der Musikpflege durchweg eine Verflachung eingetreten ist."[9]

 

Wenn Storck ebenso wie zuvor Becker und Leichtentritt die mehrstimmige Madrigal- und Liedkomposition als "Hausmusik" bezeichneten, so stützten sie alle ihre Vorstellung einer idealen Hausmusik-Vergangenheit noch auf das Repertoire der dazu gebildeten und ausgebildeten Oberschichten. Seit der Wende zum 20. Jahrhundert aber war es dann die Jugend- und Singbewegung, die das "deutsche Volkslied" immer stärker nicht nur in die Wandervogel-Bewegung, sondern auch in die Hausmusik-Debatte einbrachte. Man verband die sogenannte Urtümlichkeit des deutschen Liedes mit dem Ideal "zurück zur Natur", mit Gesundheit, Kraft, Moral und Sittlichkeit, gepaart mit einer gehörigen Portion Stolz auf das sich damit ausdrückende "deutsche Wesen". Walther Hensel, einer der Hauptfunktionäre der Bewegung, schrieb bereits 1922[10]: „Das deutsche Volk ist längst nicht mehr, wie es ehedem gewesen ist, voll Gemütstiefe und Innerlichkeit, Treue und Biedersinn, Tapferkeit und Gottvertrauen. Die Sucht nach Reichtum und Macht hat es verdorben..." Und er empfahl dagegen das Singen in Gemeinschaft: "Das Singen ist ja ein Ausdruck der Jugendkraft und Gesundheit, nicht bloß bei Einzelmenschen, sondern auch bei Völkern ......... Es ist an der Zeit, das verwahrloste Heiligtum des deutschen Gemütes wieder aufzurichten und zu schmücken wie ehedem.“

 

Es war nicht Hensel allein, der sich an die Vorstellung einer in der Vergangenheit existierenden idealen Gemeinschaft des deutschen Volkes klammerte. Sein Geschichtsbild entsprang nationalistischem Denken, das in der 2. Hälfte des 19 Jahrhunderts alle Kultur- und Geistesbereiche durchdrang. Ein wichtiger Faktor sollte dabei die "Entdeckung" einer ruhmreichen nationalen Geschichte "der Deutschen" werden. Die Suche nach sagenumwobenen Kaisern, nach siegreichen Eroberungskriegen und männlich-starken Helden und Heldentaten spiegelte ebenso wie die große Verehrung für das Genie deutscher Dichter und Komponisten den Wunsch, dem deutschen Volk Stärke, geistige und künstlerische Tiefe und Begabung sowie sittlich-moralisches Empfinden zuzuschreiben. Singulär oder schichtenspezifisch vorkommende Gegebenheiten, herausragende Leistungen einzelner interpretierte und verallgemeinerte man gerne zum spezifisch Deutschen und zum deutsch-nationalen Allgemeingut.

 

Dies galt in gleicher Weise für die historische Einordnung der Hausmusik. In der Renaissancezeit (über eine genauere Zeitbegrenzung war man sich uneins) habe eine blühende Hausmusikpflege existiert, die, da sie relativ einfach auszuführen gewesen sei, eine Musik für die Laien, für jedermann gewesen sei. Erst mit der zunehmenden musikalischen Komplexität der Komponisten der Klassik habe der Verfall der Hausmusik begonnen. Gerade von Seiten der Jugend- und Singbewegung suggerierte man eine ideale vergangene Volksgemeinschaft, die in jeder Gesellschaftsschicht in gleicher Weise "Volksmusik" betrieben habe.

 

Dass auf jedem gesellschaftlichen Niveau bereits im Mittelalter wie in jeder Gesellschaft auf der ganzen Welt auf vielfältige Weise musiziert wurde, dies freilich könnte man als "Binsenweisheit" bezeichnen, aber dieses Musizieren wurde nun zur "Hausmusik" erklärt. Da die in Notation erhaltenen schriftlichen Quellen zum überwiegenden Teil aber Quellen der gesellschaftlichen Bürger- bis Adelsschicht sind, ebenso die zahlreichen ikonographischen Zeugnisse der im Hause praktizierten Musik sich fast ausschließlich auf die Mittel- bis Oberschicht beziehen (vgl. die Bildzeugnisse bei W. Salmen, s. Anm. 4), ist zu erkennen, dass die Quellen nur einen sehr begrenzten Kreis der Bevölkerung betreffen. Die in Handschriften und Drucken enthaltenen meist 4-5stimmigen weltlichen und geistlichen Gesänge wurden aber jetzt - ebenfalls wie das Singen von "Volksliedern" - als Zeugnis dafür gedeutet, dass das gesamte deutsche Volk spätestens seit der Reformationszeit in allen Teilen der Gesellschaft Hausmusik betrieben habe. Man zitierte das von Luther geforderte Singen geistlicher Lieder im Hause und rühmte den mehrstimmigen Gesang in gebildeten Kreisen als "deutsche Hausmusik".

 

Der rührige Musikprofessor für Schulmusik Hans Joachim Moser, der gleichermaßen aktiv in der Jugend- und Schulmusikbewegung wie auch später dem Nationalsozialismus zugetan war, formulierte 1925 seine Überzeugung, dass die lutherische Schulmusikerziehung (!) bewirkt habe, dass das ganze Volk der Deutschen Anteil an der musikalischen Entwicklung genommen hätte. Die Kantoren hätten durch ihren Unterricht am Gymnasium dazu beigetragen, dass Musik ein "Allgemeinbesitz der Gesamtheit" gewesen sei.

 

"Der Glücksfall, daß Luther ein Musiker von Rang gewesen ist, hat bis zum Einbruch des Rationalismus die deutsche Kirchenmusik in reicher Blüte erhalten ..... Der tonangebende Kirchenmusiker aber, der Kantor (oder der Organist), stand am Gymnasium an Rang gleich hinter dem Konrektor; ..... Erst die, alle Gefühlswerte verächtlich beiseiteschiebende, intellektualistische Seuche der Aufklärung fasste die Schulmusik geringschätzig auf, die kirchliche Tonkunst veräußerlichte sich sogleich konzerthaft zu einem bloßen ‚Spiel des Witzes und Verstandes’, ..... Damit wurde ein Verfallsprozeß beschleunigt, der wesentlich mit dem Beginn der Generalbassepoche eingesetzt hatte ..... es klaffte immer stärker der Riß zwischen ‚Unkunst’ (Volksmusik auf dem Aussterbeetat) und ‚Kunst’ als Angelegenheit der 'gelernten' Fachleute auf. ..... Musik war nicht mehr Allgemeinbesitz der Gesamtheit, keine blühende, grünende Allmende mehr....."[11]

 

Man vergleiche Mosers Vorstellung des musikalischen Allgemeinbesitzes mit der Klage Johann Sebastian Bachs über die musikalische Inkompetenz seines gymnasialen Schulchores, mit dem er die Aufführungen seiner Kantaten bestreiten musste,[12] um zu erkennen, dass selbst der musikalische Wirkungskreis des Thomaskantors Johann Sebastian Bach in die gesellschaftliche "Gesamtheit" hinein äußerst begrenzt war.

 

Noch 1940 verstieg sich der Autor Hans Polack in einem Artikel der derzeit nationalsozialistischen Zeitschrift "Die Musik" zu begeisterten Verallgemeinerungen über die Hausmusik des deutschen Volkes: "Den höchsten Gipfel erreichte die Pflege der Hausmusik gegen das Ende des 18. und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Vielleicht ist das deutsche Volk zu keiner Zeit musikseliger, musikliebender, aber auch kaum musikalischer gewesen als in jener Zeit. Eine wohlige Wärme, glückliche Behaglichkeit, eine gemütvolle Lebensstimmung erfüllte das deutsche Haus. Die Musik ist die beste Freundin aller geworden. Memoiren, Tagebücher und Briefe bieten tausendfache Zeugnisse jener durch Musik verklärten Lebensführung. Von dieser Zeit können wir sagen: sie besaß eine echte musikalische Kultur, und die verdankt sie in der Hauptsache der Pflege der Hausmusik."[13]

 

Immerhin verlegte Polack den "höchsten Gipfel" der Hausmusik auf die Zeit der klassisch-romantischen Kammermusik. Doch auch sie war keineswegs Allgemeingut, wie Pollack behauptet, sondern sie spielte sich am Hofe und innerhalb der bildungsbürgerlichen Schicht der Städte ab.

 

Je stärker man die Vergangenheit idealisierte, desto schwerer und bedrückender erlebte man die Gegenwart. Folgerichtigerweise stellte sich die Frage, warum und aus welchem Grund es zu einem - wie man festgestellt zu haben  meinte - so starken Niedergang der Hausmusik kommen konnte. Hier gab es unterschiedliche Antworten. Für den Verfall der angeblich wohligen Wärme und glücklichen Behaglichkeit des deutschen Hauses und der blühenden Hausmusik machte beispielsweise der schon zitierte Hans Polack die materialistische Lebensauffassung verantwortlich. "Der wahre Grund für den Verfall der Hausmusik liegt ..... in dem Aufkommen einer materialistischen Lebensauffassung…"[14] In ähnlichem Sinne hatte Hans Joachim Moser der "intellektualistischen Seuche der Aufklärung" die Schuld am Untergang der Hausmusik zugeschrieben. "Erst die, alle Gefühlswerte verächtlich beiseite schiebende, intellektualistische Seuche der Aufklärung faßte die Schulmusik geringschätzig auf, die kirchliche Tonkunst veräußerlichte  sich sogleich konzerthaft zu einem bloßen 'Spiel des Witzes und Verstandes' ..... Damit wurde ein Verfallsprozeß furchtbar beschleunigt, der wesentlich mit dem Beginn der Generalbassepoche eingesetzt hatte, als das Chorlied aus der Bürgerschenke an das Cembalo in der Patrizierstube 'emporgehoben' worden war, um sich zur Monodie des Kunstgesangssolisten zu subjektivieren: es klaffte immer stärker der Riß zwischen ' Unkunst' (Volksmusik auf dem Aussterbeetat) und ' Kunst' als Angelegenheit der 'gelernten' Fachleute auf ..... [Musik] schraubte sich immer mehr wie eine fremde Orchidee am Stock 'gebildeter' Kunsttheorie zur Luxuspflanze empor. ..... In Wirklichkeit hat sich ..... im letzten Jahrhundert die Kunstentwicklung so vollzogen, daß einem Kreis von Latifundienbesitzern und Libertinern, d.h. von Großagrariern und Fachzigeunern der Kunst eine ungeheure Masse von Sklaven, von Großstadtplebs des Kunstgenusses gegenüber steht - hie Pianolazivilisation und l'art pour l'art, dort Schlagerschund und sentimentaler Kitsch, während die einst sozial versöhnende, zur nationalen Einheit erlösende Kunst des echten Volksliedes sich fast in ein paar Walddörfer und auf wenige stille Kleinstadtinseln verkrochen hat. ..... was übrigblieb, war 'Musik als Luxusangelegenheit' und 'Musik als Gehirnturnerei', beides nur für solche, die's 'dazu hatten.'[15]

 

Moser imaginierte eine ehemals bestehende nationale musikalische Gemeinschaft, in der die Kunst des Volksliedes eine die Gesellschaftsschichten "sozial versöhnende" und damit zur "nationalen Einheit erlösende" Funktion gehabt hätte. Derlei Phantasien können angesichts des in früheren Jahrhunderten bestehenden Feudalsystems ebenso wenig wie angesichts der häufigen Fehden und Kriege deutscher Fürsten gegeneinander nur als Phantastereien bezeichnet werden. Doch gerade innerhalb der Singbewegung hielt man an der Meinung fest, das Singen im Hause habe das deutsche Volk über alle gesellschaftliche Schichten hinweg geeint. Jetzt hingegen, angesichts der Bewusstwerdung der sozialen Unterschiede, konnte man die imaginierte heile Welt nicht mehr entdecken und nahm die sich sozialgesellschaftlich wandelnde Ausübung der Hausmusik als Symptom eines allgemein gesellschaftlichen Niedergangs.

 

Unter Missachtung der Realitäten, dass Hausmusik gerade mit dem Aufblühen der Städte im 19. Jahrhundert eine zuvor nie gekannte Verbreitung gefunden hatte, scheint der Tatbestand, dass jetzt mit steigendem Wohlstand der Stadtbevölkerung eine neue gesellschaftliche Schicht in das Bürgertum und damit zur Teilhabe an deren kulturellen Gütern, also auch zur Hausmusik, drängte, eher eine unbestimmte Angst hervorgerufen zu haben. Aus dem rasant steigenden Handel von Musikverlagen und Instrumentenbauern geht hervor, dass in den Haushalten umfangreich Musik betrieben wurde. Das Angebot an musikalischer Literatur und an Musikinstrumenten stieg ständig, wie man u.a. aus den einschlägigen Anzeigen in den musikalischen Zeitschriften erkennen kann. Gerade das aber - der Verlust der Exklusivität - galt als Verfall und als niedere Qualität. Der Tatsache, dass eine neue gesellschaftliche Schicht sich mit Vehemenz dafür stark machte, dem bürgerlichen Familienbild auch musikalischerseits gerecht zu werden, konnten viele nur mit Verachtung begegnen. Das Streben nach materiellen und kulturellen Gütern in der Zeit der Industrialisierung galt einer Gesellschaftsschicht, deren Besitz vorrangig auf Erbschaft und familiärer Tradition beruht hatte, als geistige Flachheit, Stumpfheit und als Vergiftung der Seele des Volkes. Selbst der seit der 2. Jahrhunderthälfte sich enorm steigernde Konzertbetrieb, dessen Qualität sich objektiv ohne Frage ständig weiter entwickelte, galt den Kulturpessimisten als "seelenlos". Der Musikwissenschaftler Heinrich Besseler bezeichnete ihn als "leerlaufenden Betrieb, dem die frühere Erlebnisschwere längst fehlt".[16] Das Untergangsszenario erhielt in der Weimarer Zeit zusätzlichen Zündstoff durch die technische Neuerung des Radios, ebenso aber auch durch die angebliche Konkurrenz des Sportes, Tanzes und anderer Freizeitaktivitäten. Solcherlei Klischees der Jugend- und Singbewegung wurden von eben den "Singbewegten" auch nach 1933 weiter fortgeschrieben: "Was sonst an Musikkultur im deutschen Familienkreise noch vorhanden war, verkümmerte mehr und mehr und fiel schließlich dem mörderischen Einfluß der mechanischen Musik zum Opfer ..... Der neuzeitliche Sport, der Tanz und das Wochendfieber jagten die Hausmusik aus dem heiligen Tempel der Familie heraus" und "das Radio [hat] geradezu verheerend auf die Hausmusikkultur gewirkt."[17]

 

Seit der Wende zum 20. Jahrhundert fehlte es nicht an Vorschlägen und Initiativen, basierend auf eben der Vorstellung einer ehemals das ganze deutsche Volk umfassenden Hausmusik, musikalisches Tun in jede Familie, in jedes deutsche Haus zu tragen. Nicht zuletzt basierte die Einführung des "Tages der Hausmusik" im Jahre 1932 auf der Annahme, die Hausmusikpflege gehe in den Familien zurück und müsse daher staatlich gefördert werden.

 

Die Nationalsozialisten konnten auf der musikhistorischen "Vorarbeit" aufbauen, betraf sie doch die zwei wesentlichen Komponenten, die sich im Begriff National-Sozialismus vereinten: die nationale Bedeutung zeigte sich in der angeblich ehemals blühenden deutschen Hausmusiklandschaft als Zeichen ehemaliger kultureller Stärke und Überlegenheit, die Vorstellung von einem ehemals über alle Schichten hinweg musizierenden Hausmusik-Volk nährte die Forderung nach einer Hausmusik für alle und entsprach dem Sozialismus Hitler'scher Prägung: dem Staat als völkische Einheit.

 

 

 

 

 

III. Hausmusik ist Kunst - das "Volkslied" als nationale Kunst

 

 

 

Die Einstellung des Bildungsbürgertums zu seiner Hausmusik gehörte in den Zusammenhang der ästhetischen Haltung gegenüber der Musik als Kunst. War doch seit Anfang des 19 Jahrhunderts die Kunst als wichtiges Accessoire bürgerlichen Lebens in allen ihren Bereichen durch philosophische Deutungen mit Zuschreibungen versehen worden, die ihr eine überragende Wertigkeit attestierten. Schiller, Schopenhauer und die Denker des deutschen Idealismus wie Kant, Schelling, Hegel schrieben der Musik und Kunst die Fähigkeit zu, den Menschen von seinem erdgebundenen Dasein in die Gefilde des Geistes, des Überirdischen, des Göttlichen zu tragen, ja der Mensch könne durch die Kunst über sich hinaus gelangen und damit eine höhere Stufe des wahren Menschseins erreichen. Wenn vielleicht auch nur wenige Bürger den philosophischen Gedankengängen im Detail gefolgt sein mögen, so ist aus den schriftlichen Quellen doch zu beobachten, dass sich seit dem 19. Jahrhundert im Bildungsbürgertum ein Grundkonsens bildete, Musik vermöge einen wichtigen Beitrag zur Bildung des Charakters zu leisten.[18] Das las sich dann noch im 20. Jahrhundert bei Peter Raabe, dem musikalischen Vordenker der Nationalsozialisten und Präsidenten der Reichsmusikkammer folgendermaßen:

 

"Wer wollte leugnen, dass die Kunst – nächst der Religion – das Wichtigste von dem zu bieten hat, was die Bildung des Charakters, der Seele und des Geistes beeinflussen kann?"[19] oder: ein Verkümmern der Hausmusik sei gleichzusetzen mit "seelischer und geistiger Verarmung", die Musik sei kein Luxus, sondern dank ihrer ideellen Funktion "eines der allerwichtigsten Mittel zum Aufbau eines neuen deutschen Volkswesens."[20] Ebenso ging es Raabe auch bei der staatlichen Musikförderung um "eine heilige Sache, um die Sache der deutschen Seele".[21]

 

Es ist nun interessant zu verfolgen, wie Raabe als nationalsozialistischer Kulturpolitiker sich bemühte, seine bildungsbürgerliche Einstellung gegenüber der Kunst in Einklang mit den Zielen der Machthaber zu bringen, das ganze deutsche Volk an den Segnungen der Kunst teilhaben zu lassen. Als ausübender Musiker und Musikwissenschaftler war Raabe "naturgemäß" der traditionellen Kunstästhetik verhaftet. Mit einer Dissertation über Franz Liszt (1916) und als Generalmusikdirektor des Sinfonieorchesters Aachen von 1920-1934 hatte er sich immer im Bereich der Kunstmusik bewegt. Von daher gehörten die gängigen Kriterien von einer sittlich hochstehenden Kunst mit zu seinem Selbstverständnis. Gleichzeitig implizierte aber die Idealisierung der hohen Kunst die Verachtung der schlechten, minderwertigen so genannten Unterhaltungsmusik. Und so schimpfte Raabe auch 1940 über deren Geschmacklosigkeiten und Würdelosigkeiten, über Schamlosigkeit und den verrotteten Zeitgeschmack der Zeit der Weimarer Republik, über Gewinnsucht und Verflachung, einer Musik also, die das Gros der Bevölkerung zu genießen schien.[22] Gleichzeitig musste er als Politiker des gesamten deutschen Volkes einräumen, dass "zwei streng geschiedene Arten von Musik" ihre Berechtigung hätten: einerseits die Kunst, die "eine gewisse Anstrengung mit sich bringt"[23] und andererseits die Musik, bei deren Klängen sich der Mensch entspannen und zerstreuen will. In einer öffentlichen Rede sprach Raabe 1936 zum Thema: "Volk, Musik, Volksmusik" die Problematik der gesellschaftlichen Schichtung bezüglich des Musikgeschmacks an:

 

"Jedem Deutschen die gleiche Art von Musik bieten zu wollen, ohne Rücksicht auf die Bildungshöhe des Einzelnen, auf seine Berufseigenart, auf sein bisheriges Verhältnis zur Kunst, ja auf seinen Wohnort, sein Alter usw. ist Barbarei. Zum Kunstgenuß gehört Empfangsbereitschaft und Empfangsmöglichkeit. Es ist die Pflicht derer, die dem einfachen Manne die Musik bringen wollen, um ihn mit ihr zu begeistern, zu erfreuen, zu trösten, zu beruhigen oder zu beschwingen, diese Empfangsbereitschaft zu erhöhen und alle Gegebenheiten dabei klug zu bedenken und auszunützen. Die Möglichkeit, Musik in der rechten Weise in sich aufzunehmen, ist bei allen Menschen verschieden. Anlage und Fortbildung sind die grundlegenden Bedingungen dafür. Wir streben in unserem neuen Staate danach, möglichst viele zum Musikgenuß heranzuziehen, denen dieser Genuß bisher nicht erreichbar gewesen ist." [24] Der Tatsache, dass sich der überwiegende Teil der Deutschen mit U-Musik umgebe, könne man nur damit begegnen, ihr eine qualitätvolle Unterhaltungsmusik anzubieten. Es ginge darum, "den gesamten Volksgeschmack" zu heben. Ein großer Teil des Publikums sei noch nicht so weit erzogen, dass er "das Einfache und Natürliche, dass Gute lieber aufnimmt als das Unechte, das Rohe, das Platte und Sentimental-Verschwommene, kurz das, was man unter dem Sammelbegriff 'Kitsch' versteht."[25]

 

Was bot sich nun als musikalische Alternative für die geschmähte Unterhaltungsmusik an? Das Stichwort hieß "Volkslied".

 

Hiermit rekurrierte Raabe, und nicht nur er, sondern die Gesamtheit derer, die in der nationalsozialistischen Musikpolitik tätig waren, auf einem Gedankengut zum "Volkslied", das sich während des 19. Jahrhunderts im Rahmen zunehmend nationalen Denkens entwickelt hatte.

 

Gottfried Herders "Entdeckung" des bäuerlichen Liedes sowie Brentano/von Arnims Sammlung "Des Knaben Wunderhorn" hatten ebenso wie die Zuwendung der Komponisten der Romantik zum deutschsprachigen Lied (Schubert, Schumann, Brahms) einen allgemeinen Konsens gefördert, beim Lied handele es sich um den Ausdruck einer nationalen, ursprünglichen und damit "gesunden" gesellschaftlichen Grundschicht.[26] Im Laufe des 19. Jahrhunderts verbreitete sich dieser Aspekt immer mehr: dem Lied und ganz besonders dem einfachen "Volkslied" wurden - als national-musikalischem Ausdruck - ausschließlich positive Eigenschaften zugeschrieben. Die Wiederentdeckung des sogenannten Volksliedes im 19. Jahrhundert war nicht von der Unterschicht, aus der das "Volkslied" stammte, sondern vom Bürgertum getragen worden. Es suchte nach Einfachheit und "edler Einfalt", war aber zugleich "von der Idee des Nationalen besessen, die sich allmählich zum Nationalismus verhärtete.“[27] Dahlhaus bemerkte weiter zutreffend: Daß das Volkslied ein Lied der Unterschichten ist, sei durch die Idee des rein Menschlichen verbrämt worden. Dies hätte dazu getaugt, „das Bürgertum in sich selbst ein Stück Volk entdecken zu lassen, wenn es sich dessen Lieder zu eigen machte.“

 

Ein charakteristisches Beispiel für diese Tendenz ist die Liedersammlung "Hausmusik"[28] des bereits genannten W. H. Riehl von 1855, der mit seinem Heft die Absicht verfolgte, wieder neues musikalisches Leben in die Familien zu bringen. Darin hatte er selbst einstimmige Lieder auf Texte deutscher Dichter komponiert und mit recht einfach auszuführender Klavierbegleitung versehen. In seinem Vorwort schrieb er: "Es bringt dieses Liederbuch nur schlichte, ehrliche deutsche Hausmusik, im Lauf der Jahre für das eigene Haus geschrieben und fleissig im Hause gesungen. Wollte man die Lieder im Salon singen, so würde man sie profanieren und den Salon langweilen. Nur im Heiligthum des Hauses und mit und vor den Freunden des Hauses sollen sie gesungen werden." Jetzt war also das einfache Lied, das Schlichte im Gegensatz zum Komplizierten und angeblich Elitären der Musik der Salons gefordert. Riehl warb mit seiner Liedausgabe für eine Hausmusik, die nur wenig musikalische Ausbildung erforderte und somit in jedem Hause singbar wäre.

 

Vor allem aber war es dann die Jugend- und Singbewegung, die das deutsche Lied ins Zentrum ihrer Aufmerksamkeit rückte. Die Bewegung, die sich in Konfrontation zur von der ihr so betrachteten degenerierten Kunstmusikentwicklung der Oberschichten mit ihrer Virtuosität und ihrem verflachten Konsumverhalten innerhalb einer unteren, aber aufstrebenden bürgerlichen Mittelschicht etabliert hatte, hatte das "einfache Lied", das aus dem Volke entstanden sei und damit zum Volke gehöre und sein inneres Wesen ausdrücke, zum Kern einer sittlich hochstehenden Volkskunst erklärt. Damit war das Singen, das jedem Menschen natürlicherweise zugänglich sei, zum Mittelpunkt musikalischer Volksbetätigung erklärt worden. Die umtriebigen Vertreter der Singbewegung Fritz Jöde und Walther Hensel konnten sich nicht darin genug tun, das Ideal des deutschen "singenden Volkes" zu beschreiben, das, die Eigenart "des Deutschen" und die nationale Gemeinschaft betonend, in die Nähe völkischen Gedankenguts rückte.

 

Und noch einen Aspekt verbreitete man im Rahmen der Jugendmusik- und Singbewegung: hier betonte man, das "echte Volkslied" habe schon immer das ganze Volk durchdrungen, als Eigentum des gesamten deutschen Volkes sei es unterschiedslos von allen gesellschaftlichen Schichten gesungen worden und habe damit eine sozial und national versöhnende Funktion gehabt. Auch  heutzutage habe das gemeinsame Singen eben diesen Zweck, das deutsche Volk in allen seinen Schichten als eine Nation zu vereinen.

 

Doch nicht allein singen sollte das Volk, sondern ihm sollten auch instrumentale Möglichkeiten geboten werden. Im Wissen darum, dass das Erlernen eines klassischen Instrumentes viele Jahre fleißigen Übens erfordert, hatte man in der Jugend- und Schulmusikbewegung der Weimarer Zeit auf einfach zu spielende Musikinstrumente zurückgegriffen wie Gitarre, Mandoline, Zither, Blockflöte, Mundharmonika, Akkordeon (= Handharmonika) und Bandonion. Speziell die Instrumentenfirma Hohner hatte viele davon für den leichteren Gebrauch weiterentwickelt, was zu einem enormen Absatz führte. In diesem Sinne konnte Raabe 1936 sagen:

 

"Unter 'Volksmusik' verstehe ich ..... die Instrumental-Laienmusik. Die Reichsmusikkammer vereinigt in der Fachschaft Volksmusik 8 Fachgruppen:

 

1. die Liebhaber-Orchester,

 

2. die Blasmusikvereine,

 

3. die evangelischen Posaunenchöre,

 

4. die Handharmonikavereine,

 

5. die Mundharmonikavereine,

 

6. die Bandonionvereine,

 

7. die Mandolinen- und Gitarrenvereine,

 

8. die Zither-Musikvereine."

 

Und Raabe vertrat die Überzeugung: "Die Betätigung der Volksmusiker kann ja einen Wall aufrichten gegen den schwer zu bekämpfenden Kitsch in der Musik, gegen den noch immer sich breit machenden Schlager."[29]

 

Unter Volksmusik verstand man immer weniger das, was Herder seinerzeit mit seinen Forschungen im bäuerlichen Milieu angesiedelt hatte: die Lieder und Tänze des bäuerlichen Volkes, die sich seiner Überzeugung nach "aus Grundschichten" erhalten hatten, dem Gedächtnis zu erhalten und/oder wieder zu erwecken. Nein, die Jugend- und Singbewegung erhielt eine Fülle neuer Kompositionen von Liedern, deren Einfachheit die angebliche Ursprünglichkeit des deutschen Liedes imitierte. So nimmt es kaum Wunder, dass seit 1933 auch die große Zahl neu komponierter und getexteter HJ- und SA-Lieder zum Repertoire des deutschen Volksliedes zählten, ja, man forderte sogar, dass die einschlägigen Liederkomponisten wie Heinrich Spitta, Gerhard Maaß, Walter Rein oder Georg Blumensaat das neue Volkslied als Ausdruck eines neuen nationalsozialistischen Volksgeistes komponieren sollten. So verwischte sich im "Dritten Reich" einesteils der Volksliedbegriff, andernteils verband sich mit dem Wort "Hausmusik" immer mehr die Vorstellung der Laienmusik, die jeder ausführen könne und die jeder auch im Hause, in der Familie, aber auch in anderen Gemeinschaften ausüben solle. Allerdings: daheim zu singen und daheim irgendwie zu musizieren, war weiterhin das angestrebte Ziel nationalsozialistischer Musikpolitik, denn hier befände sich der musikalische "Mutterboden", von dem aus die gesamte deutsche Kultur ihren Ausgang nähme. Wie von nun an jede Art von Laienmusik mit der Hausmusik verknüpft wurde, zeigt die Mitteilung des Kulturamts der Reichsjugendführung vom Jahre 1943 zum "Tag der deutschen Hausmusik":

 

"Im Mittelpunkt der Hausmusikveranstaltungen soll das Schaffen der Komponisten der Gegenwart stehen .…. Für die Durchführung der Veranstaltungen .…. gilt folgendes: Die Bannspieleinheiten führen zusammen unter Einbeziehung der Jugendmusikschulen mit der Zustimmung der Dienststelle der Reichsmusikkammer und der Kreiskulturhauptstelle Hausmusikabende durch. Sowohl gemischt-stimmige Singscharen und Chöre als auch Mädel- und Pimpfenchöre musizieren mit und ohne Instrumente. Die Instrumentalgruppen, Bläserkameradschaften und Bannorchester wirken bei den Veranstaltungen mit. Auf die Möglichkeit, Hausmusik im kleineren Kreise der Familie und der Einheit durchzuführen, wird nachdrücklich hingewiesen."[30]

 

Also: Singscharen, Pimpfenchöre, Bläser- und Bannorchester wurden jetzt als Fundament der Hausmusik betrachtet. Der Musikreferent der Reichsjugendführung Wolfgang Stumme, der die Leitung der Musikausübung innerhalb der Hitlerjugend inne hatte, erklärt uns dieses so: "Die Hausmusik erhielt durch die starke Förderung der Partei und der Hitler- Jugend wieder eine wesentliche Bedeutung. Nicht durch die steigende Zahl der 'Hausmusikveranstaltungen' ist dieses zu beweisen; sie konnte in den vergangenen Jahren nur äußerer Notbehelf sein. Durch das Gemeinschaftsmusizieren der Hitler-Jugend wird der Grund zum gemeinsamen Singen und Spielen in der Familie gelegt und damit durch die Musik ein neuer Mittelpunkt der Geselligkeit und Kunstpflege im Haus geschaffen. Die rechtzeitige Ankündigung der Jugendlichen, später in Beruf und Familie Hausmusik zu treiben, kann nicht häufig genug gegeben werden."[31] Stumme, der seinerseits als Schüler Fritz Jödes aus der Jugendmusikbewegung stammte, vertrat tatsächlich die illusorische Hoffnung, aus dem Singen und Spielen der angeblich qualitativ hoch stehenden HJ- Lieder und Spielstückchen könne sich die Musikpflege, d.h. der Zugang zu einer hoch stehenden deutschen Musikkultur entwickeln.

 

Gotthold Frotscher - Musikwissenschafts-Professor in Berlin und aktiv in der nationalsozialistischen Musikpolitik tätig - formulierte sehr deutlich, wie stark die nationalsozialistische Musikpolitik sich der Schichtendifferenz im Musik- und Kultursektor bewusst war und wie sie darum rang, im Sinne der völkischen Einheit auch eine musikalische Volkseinheit zu schaffen. In seinem Artikel "Hausmusik und Gegenwart" von 1937[32] gab er zu bedenken, dass die Haus- und Kammermusik zu Anfang des 19. Jahrhunderts, die als Hochstand der bürgerlichen Hausmusik gelte, "nur eine verhältnismäßig schmale Gesellschaftsschicht erfasst hat, daß ungefähr gleichzeitig das erlebnismäßig gebundene Volkslied im Schwinden ist, und daß sich aus der Spannung zwischen bürgerlicher und 'volkstümlicher' Musizierform eine Wertspaltung zweier Kunstgattungen vorbereitet, eine Wertspanne zwischen 'vornehmer' und 'populärer' Kunst ..... und damit fehlt der Musikkultur das, was ihr erst völkische Bedeutung verleiht."

 

 

 

 

 

IV.Hausmusik als völkisches Gemeinschafts- und nationales Qualitätsmerkmal

 

 

 

Das Staatskonzept Hitlers und seiner vordenkenden Parteigenossen hatte von Anbeginn an (d.h. bereits in Hitlers Schrift "Mein Kampf") Kultur und Kunst zu einem wichtigen Baustein eines starken deutschen Volkes erklärt. Nur ein Volk, das sich seines großen kulturellen Besitzes bewusst sei, könne Nationalstolz und Identität mit seinem Land entwickeln. Dazu aber müsse es durch Unterricht und Bildung in die Lage versetzt werden, die kulturellen Güter zu verstehen und sie hoch schätzen zu können. Erst dann auch könne der Einzelne das Gute vom Schlechten unterscheiden lernen, die qualitätvollen Teile als nationalen Besitz und als wichtigen Faktor nationaler Größe begreifen.

 

Hitlers völkisch-nationalistisches Grundkonzept basierte auf der Vorstellung, die Deutschen seien besonders aufgrund moralisch-sittlicher Stärke und geistiger Überlegenheit ein "Herrenvolk", was sie berechtige, anderen Staaten und "Rassen" ihr Regime aufzwingen zu können bzw. andere "Rassen" sogar vernichten zu können. Es macht die LeserInnen noch heute schaudern, wenn man die damals zahlreich plazierten Floskeln von deutscher Sittlichkeit und Moral zur unfassbar großen Unsittlichkeit und Unmoral der Verfolgungen und Ermordungen von Menschen durch deutsche Bürger während des "Dritten Reiches" in Beziehung setzen muss. Und doch war es offensichtlich möglich, dass beides nebeneinander existierte.

 

Die musikästhetische Tradition garantierte, dass Kunst auf Seiten der Sittlichkeit stand. Wurde doch der Musik eine menschenverbessernde und –erhöhende Wirkung zugesprochen. Die Nationalsozialisten nahmen dieses Gedankengut auf und integrierten es in ihre völkische Weltsicht. Die Reihenfolge von Kultur – Kunst – Reinheit – Deutschtum kombinierte man in aufsteigender Reihenfolge zu einem logischen (Trug-) Schluss, der das große Ziel nationaler Stärke und Überlegenheit im Blick hatte. Auch die Hausmusik gehörte zu diesem Bereich des – wie Raabe es nannte - "Kulturwillens". Der Kulturpolitiker hielt 1935 eine Rede an die deutsche Jugend, in der er eben diesen Zusammenhang formulierte:

 

"Kein Volk der Erde hat einen solchen Schatz bodenständiger Kammermusik wie das deutsche! Ein solcher Besitz verpflichtet! Und zwar verpflichtet er den einzelnen schon in seiner Jugend und grade in ihr. Versäumt es die jetzt lebende deutsche Jugend, gut Klavier, Geige oder ein anderes Instrument spielen zu lernen, das zur kammermusikalischen Betätigung geeignet ist, so werden wir es in kurzer Zeit erleben, daß uns die anderen Völker auf einem Gebiet überholen, das so recht eigentlich unser Gebiet gewesen ist und immer bleiben sollte!

 

Es handelt sich also auch hier nicht nur um eine Pflicht des einzelnen gegen sich selbst, sondern um eine Pflicht dem Vaterlande gegenüber. Die reinste Verkörperung des Begriffes "Deutschtum" ist ja die deutsche Musik. E i n Lied von Schubert sagt mehr über deutsches Wesen aus, als in zwanzig dicken Büchern darüber gesagt werden kann; e i n Quartettsatz von Mozart oder Beethoven klärt uns über unser eigenes Innenleben deutlicher auf als die Darstellung des besten Seelenforschers es kann. Wer von Jugend auf gewohnt ist, mit Geistern zu verkehren, wie unsere großen Musiker es waren, der lernt – hier im wahrsten Sinne des Wortes – spielend erkennen, was deutsch und was undeutsch, was lautere Empfindung und was verfälschte ist. Die Reinheit, die von jenen großen Meistern ausstrahlt, teilt sich ihm selber mit, er wird empfindlich gegen den Begriff Kitsch und Schund, er wird, was der Mensch sein m u ß, wenn er etwas gelten will, – er wird a n s p r u c h s v o l l in Hinsicht auf die Güte dessen, was die Welt ihm bietet."

 

Und Raabe endet mit einem Zitat Hitlers:

 

"Wenn wir die Aufrichtung unseres Volkes als Aufgabe unserer Zeit und unseres Lebens empfinden, sehen wir vor uns nicht nur die leidende Wirtschaft, sondern ebenso die bedrohte Kultur, nicht nur die Not des Leibes, sondern nicht weniger die Not der Seele, und wir können uns keinen Wiederaufstieg des deutschen Volkes denken, wenn nicht wiederauferstehen auch die deutsche Kultur und vor allem die deutsche Kunst."[33]

 

Vor diesem Hintergrund wurde Hausmusik nicht nur als eine private Bereicherung des Einzelnen und schon gar nicht als privates Vergnügen gesehen, sondern sie galt durch ihre Zuschreibung, sie sei die Vermittlerin höherer Werte, als eine Voraussetzung der Entwicklung zu allgemeiner deutsch-national-kultureller Stärke. Damit wurde die Privatheit des häuslichen Musizierens zu einem öffentlichen Interesse erklärt, das Private wurde Staatsinteresse.

 

Während Raabe die das Volk reinigende Kraft der deutschen Kunst doch eher auf die Musik der "großen Meister" bezog, betonten andere Autoren fast gebetsmühlenartig wie der bereits erwähnte Professor Gotthold Frotscher,[34] wie die Aktivierung aller Glieder der Gemeinschaft durch die Hausmusik zu einer neuen Volkskraft führen würde. Und da sei es gerade das Schlichte und Einfache, ja das Laienmusizieren, das die Gewähr für "innere und äußere Echtheit" abgäbe. Nicht "ästhetisches Genießertum" oder "kleinbürgerliche Behaglichkeit" sei der Sinn der Hausmusik, sondern "die innere und äußere Aktivierung der lebendigen Glieder der Gemeinschaft". Aus eben der Gemeinschaft des Hauses würden "die Kräfte erwachsen für die große Gemeinschaft des Volkes, daß im Musizieren und Musikerleben sich alle lebendigen Glieder der Volkheit in der Kunst und durch die Kunst zusammenschließen."

 

Ja, es gab sogar Stimmen, die die "Gemeinschaft des Hauses" als veraltet und nicht mehr präsent bewerteten, die Familie sei ein Opfer der soziologischen Umwälzungen des 19. Jahrhunderts geworden. "Mit dem Verfall der natürlichen Gemeinschaften verfiel auch die Hausmusik; die Frage nach einer neuen Hausmusik wird darum auch eine Frage nach neuen Gemeinschaften sein."[35] Es verstand sich von selbst, dass der Autor in den neuen nationalsozialistischen Jugendgemeinschaften den Ersatz für die Familiengemeinschaft sah und sie als Ausgangspunkt für die Förderung der Laien- und damit auch der Hausmusik betrachtete. Ein besonders überzeugter Kommentator verstieg sich in der "Nationalzeitung" sogar zu der Behauptung, dass die Tage für die Hausmusik in der bisherigen Form gezählt seien, denn das Abgeschlossensein der Familie sei in Zukunft nicht mehr möglich: "Der neue Staat reißt Mauern nieder, ..... kettet die Menschen neu zu großen Gemeinschaften, in denen der einzelne mit seinen einzelnen Strebungen aufzugehen hat...."[36]

 

Die Mehrzahl der niedergelegten Aussagen zur Hausmusik im "Dritten Reich", besonders diejenigen der offiziellen Politik, betonten allerdings nach wie vor die Bedeutung der Familie, immer aber verstanden als grundlegender Baustein eines nationalsozialistischen Staates. In eben dieser mehrdeutigen Funktion und dem Changieren zwischen Privatheit und öffentlichem Staatsinteresse bewegte sich die Musikpolitik, sie formte die ehemals biedermeierliche Familienidylle der Hausmusik um in eine straff staatlich organisierte musikalische Jugendarbeit, die angeblich in die "Urzelle" der Familie zurückstrahlen und von letzterer gestützt wiederum in das Staatsgefüge hineinwirken sollte.

  

 

V. Schluss

  

Ob und wieweit die Ideale einer Musikpflege im Hause in die Praxis umgesetzt wurden, ist aufgrund eben der Privatheit der Familie nicht mehr zu überprüfen. Es ist nur schwer vorstellbar, dass die angestrengte staatliche Musikpflege tatsächlich grundlegend bis in die Familien hinein gereicht hätte. Besonders schwer ist es vorstellbar, dass Hausmusik in anderen gesellschaftlichen Schichten als dem gebildeten Bürgertum vollzogen worden sei. An einer Durchdringung des gesamten Volkes mit Hausmusik lässt besonders die Tatsache zweifeln, dass auch nach dem Zusammenbruch des "Dritten Reiches" nicht beobachtet werden konnte, dass sich "untere" Gesellschaftsschichten mit häuslicher Musikpflege beschäftigt hätten. Im Gegenteil: nach wie vor überwog in Kreisen der Musikerziehung, die weiterhin stark von den Aktiven der Jugendmusikbewegung dominiert wurden (s. den "Arbeitskreis für Haus- und Jugendmusik" und die "Arbeitsgemeinschaft für Musikerziehung und Musikpflege") die Überzeugung, dass sich das Musikleben immer noch nur innerhalb eines kleinen Teils der Bevölkerung abspielen würde. Die Arbeitsgemeinschaft für Musikerziehung und Musikpflege erließ 1953 einen "Notruf" zur "Notlage" der Musikpflege, in dem sie bitterlich über die Zustände klagte: "Immer dringlicher wird die Aufgabe, Hilfen zu geben, um die inneren menschlichen Kräfte unseres Volkes nicht verkümmern zu lassen. Auch das großzügige soziale Wohnungsprogramm muß seine gute Absicht verfehlen, wenn in den neuen Wohnungen innere Leere und Unbefriedigtsein Platz greift, die Menschen aus dem Hause den Massenvergnügungen in die Arme treibt und für totalitäre Einflüsse aller Art anfällig macht."[37]

 

Es muss wohl konstatiert werden, dass die großangelegte musikalische Förderung "des Volkes" mit der Absicht, dieses zur Kunst hinzuführen, kaum Erfolge zu verzeichnen hatte. Gleichzeitig macht das letzte Zitat deutlich, wie wenig sich auch in den ersten Jahrzehnten nach 1945 die Argumentation, Musik verhelfe zum besseren Menschsein, verändert hatte. Gerade aus den Kreisen der Jugend- und Singbewegung hörte und las man noch lange Zeit bis in die 60er/70er Jahre hinein, wie über den sittlich-moralischen Verfall der Jugend lamentiert wurde und wie die Musik hier heilbringend wirken könne. Ganz besonders aber erschrickt die oben zitierte überzeugte Aussage des Arbeitskreises, die erst 8 Jahre(!) nach dem Zusammenbruch Hitler-Deutschlands gemacht wurde und jede Spur von Selbstkritik vermissen lässt, Musik könne einen Gegenpol gegen totalitäre Einflüsse aufrichten. Das Gegenteil ist offensichtlich: auch und gerade die Erfahrungen mit dem Umgang der Hausmusik im "Dritten Reich" legen nahe, dass (leider!) Musik mit Hilfe ihrer ästhetischen Überfrachtung für jedes System nutzbar zu machen ist.

 

 

 



[1] Just, Herbert: Die Förderung der Hausmusik und die Durchführung des "Tages der deutschen Hausmusik", Berlin 1938, S. 29-31

[2] Reichardt, Johann Friedrich: Vertraute Briefe geschrieben auf einer Reise nach Wien und den Oesterreichischen Staaten zu Ende des Jahres 1808 und zu Anfang 1809, Amsterdam 1810, S. 391

[3] Neue Zeitschrift für Musik, Bd. 2, Nr. 16 (1835), S. 65

[4] zit. nach Salmen, Walter: Haus- und Kammermusik. Privates Musizieren im gesellschaftlichen Wandel zwischen 1600 und 1900, Leipzig 1969, S. 8; allgemein zur Begriffsentwicklung s. auch Busch-Salmen, Gabriele: Häusliches Musizieren einst und jetzt, in: Österr. Musikzeitschrift 1993, S. 386-392

[5] Becker, Carl Ferdinand (1837-1839): Zur Geschichte der Hausmusik in früheren Jahrhunderten, in. Neue Zeitschrift für Musik 7 (1837), S. 25f., 177f.; NZM 8 (1838) S. 45ff.; NZM 9 (1838),S. 115f., 195ff.; NZM 10 (1839), S. 121f.

[6] Wilhelm Heinrich Riehl: Naturgeschichte des deutschen Volkes als Grundlage einer deutschen Socialpolitik (1851-1869), Bd. III: Die Familie 1855

 

[7] Stephan, Rudolf: Überlegungen zur Funktion der Hausmusik, in: Rudolf Stephan (Hg.): Über das Musikleben der Gegenwart, Berlin 1968, S. 26-38, hier S. 33)

[8] Leichtentritt, Hugo: Deutsche Hausmusik aus vier Jahrhunderten, Berlin 1905

[9] Storck, Karl: Musik-Politik. Beiträge zur Reform unseres Musiklebens, Stuttgart 1911, S. 125

[10] Hensel, Walther: Im Zeichen des Volksliedes, 2.Aufl. Kassel 1936, S. 13-14

[11] Hans Joachim Moser: Rüstzeug II. Die Stellung der Musik im deutschen Geistesleben der Gegenwart, in Musikjahrbuch Bd. 3 1925, S. 114-126, (hier S. 116-117)

[12] Bach beklagte sich 1740 beim Stadtrat bitter über die Situation, in der er zu arbeiten gezwungen war angesichts 'so vieler untüchtiger und zur music sich gar nicht schickender Knaben'. Von den 54 Schülern der Thomas-Schule seien 'summa: 17 zu gebrauchende, 20 noch nicht zu gebrauchende, und 17 untüchtige.' In: Bachdokumente. Schriftstücke von der Hand Johann Sebastian Bachs, hrsg. vom Bach-Archiv Leipzig, Bd. 1, Kassel 1963, S. 60-64.

[13] Hans Polack: Die Hausmusik als Weg zur Musikkultur, in: Die Musik 1940/41 S. 231

[14] ebd. S. 231

[15] s. Anm. 11, S. 117-118

[16] Besseler, Heinrich: Grundfragen des musikalischen Hörens, in: Jahrbuch der Musikbibliothek Peters für 1925, 32 Jg., Leipzig, S. 35-52, hier S. 36

[17] Breithaupt, Rudolf Maria: Zum Tag der Hausmusik (21.11.33), in: Die Musik 26. Jg. 1934, S. 81

[18] u.a. detailliert dargelegt in Jungmann, Irmgard: Sozialgeschichte der klassischen Musik. Bildungsbürgerliche Musikanschauung im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 2008, S. 36ff.

[19] Raabe, Peter: Kulturwille im deutschen Musikleben, Kulturpolitische Reden und Aufsätze, 2. Band, Regensburg 1936, S. 43

[20] ebd. S. 46-47

[21] ebd. S. 71-72

[22] Raabe, Peter: Das Problem Unterhaltungsmusik, in: Zeitschrift für Musik 1940, S. 453-455

[23] ebd. S. 453

[24] s. Anm.19, S. 66

[25] s. Anm. 22

[26] Hierfür steht beispielhaft der Ausspruch R. Schumanns: "Höre fleißig auf alle Volkslieder! Sie sind eine Fundgrube der schönsten Melodien und öffnen dir den Blick in den Charakter der verschiedenen Nationen." [zit. aus Schumann, Robert: Musikalische Haus- und Lebensregeln, in: Schumann, Robert: Gesammelte Schriften über Musik und Musiker, 4. Bd. Leipzig 1854, S. 300]

[27] Dahlhaus, Carl: Die Musik des 19. Jahrhunderts (=Neues Handbuch der Musikwissenschaft, Bd. 6), Laaber 1980, S. 91

[28] Hausmusik, Fünfzig Lieder deutscher Dichter in Musik gesetzt von W.H.Riehl, 1855

[29] s. Anm. 19, S. 62-63

[30] Musik in Jugend und Volk, hg. von der Reichsjugendführung, dem Hauptkulturamt in der Reichspropagandaleitung der NSDAP und dem Amt Feierabend in der NS-Gemeinschaft "Kraft durch Freude", 6.Jg. 1943, S. 102-103

[31] ebd. S. 18

[32] Frotscher, Gotthold: Hausmusik und Gegenwart, in: Völkische Musikerziehung, 3.Jg. 1937, S. 377-379

[33] s. Anm. 19, S. 16-17

[34] s. Anm. 32

[35] Lamerdin, Kurt: Laienmusik vor neuem Anfang, in: Wille und Macht. Führerorgan der nationalsozialistischen Jugend 1937, S. 10

[36] Presseecho zur "Hausmusik" zitiert aus der "Nationalzeitung" vom 20.11. 1934, in: Die Musik XXVII/3, S. 230-231

[37] Hausmusik. Zweimonatsschrift für Haus- und Kammermusik, Chorwesen und Musikerziehung. Für den Arbeitskreis für Haus- und Jugendmusik hg. von Richard Baum, 17. Jg. Kassel 1953, S. 184

 

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